Detlef Diederichsen

Volkskunst aus dem Knabengebirge (Reissue von 1982, VÖ: 3. Juli 2020)

Ich wollte wirklich nie Popstar werden. Nicht Freddie Mercury, David Bowie oder Mick Jagger waren meine Role Models, sie hießen eher Van Dyke Parks, Ron Elliott oder Harry Nilsson. Nicht Stimmen, Charisma und Erfolg, sondern Kompositionen, Konzepte und heroische Niederlagen fand ich anziehend. 21-jährig hätte ich, in die Zukunft schauend, mein Leben als ein Erfolg angesehen, wenn ich ein bizarres Meisterwerk, eine Handvoll wirklich herausstechender Songs hinterlassen hätte. Genauso gerne wäre ich künstlerischer Strippenzieher im Hintergrund eines Erfolgs gewesen, ein Burt Bacharach, Lamont Dozier oder Jim Dickinson. Am allerliebsten: beides zusammen.

Bei meinem Freund Bob stand ein vollausgerüstetes Tonstudio im Garten. Die Familie war vermögend, Bob und seine Brüder musikbegeistert. Es gab Instrumente, es gab eine Acht-Spur-Tonbandmaschine, Mikrophone, Geräte, Kabel – es gab nur niemanden, der damit umgehen konnte. Bob lud seine Freunde zur Nutzung ein: Wir probten dort eine Zeit lang mit den Zimmermännern, jammten in allen möglichen Besetzungen und ich bildete mir ein, als jemand, der Jahre lang Musikkassetten bespielt hatte, mit derem großen Bruder genauso fertig werden zu können. Am Ende produzierten wir dort zwei misslungene Zimmermänner-Singles (die eine ist nie erschienen, die Bänder verschollen, die andere unsere schlechteste Veröffentlichung – allerdings geadelt durch unser schönstes Cover, dank Felix Reidenbach) und ich nahm einige etwas verunglückte Sessions für den „Lieber zuviel als zuwenig“-Sampler auf ZickZack im Frühjahr 1981 auf (Nachdenkliche Wehrpflichtige, Vielleichtors).

Vorher experimentierte ich dort allein ein wenig herum. Ich war auf der Suche nach Methoden, die für mich funktionierten. Zunächst griff ich zu meinem Stamminstrument, der Gitarre und spielte Spur um Spur kurze Instrumentals ein. Was mir sofort auffiel: Ohne Beat kam ich nicht weit. Also gönnte ich mir von meinem Sold als Zivildienstleistender das Beat-Objekt der Stunde: eine Boss Dr. Rhythm DR-55, einen programmierbaren analogen Drum Computer. Die Möglichkeiten waren auf das Essentielle minimalisiert: drei Sounds – Kick Drum, Snare Hi-Hat – programmierbar (und speicherbar) in sechs 16-er- und zwei 12-er-Patterns. Zusätzliches, nicht unbedeutendes Feature: Man konnte Betonungen („accent“) setzen.

Ich programmierte aleatorisch, hörte mir das Ergebnis an und wenn es groovte, schichtete ich Gitarren, Bass, Casio-Keyboards und Gesang darauf. Zusätzlich probierte ich an den klanglichen Manipulationsmöglichkeiten herum, die mir Space Echo und Harmonizer boten, was die spannendsten Tools zu sein schienen, die dort zur Verfügung standen. So finalisierte ich im Frühjahr 1981 zuerst zwei Titel allein, dann half mir mein Zimmermänner-Buddy Timo Blunck bei zwei weiteren. Timo war es auch, der die Aufnahmen seinem neuen Palais-Schaumburg-Kollegen Thomas Fehlmannn vorspielte. Eines Tages klingelte bei mir das Telefon, Thomas war dran und äußerte sein Interesse, auf Basis dieser Demos mit mir ein Album zu produzieren für das Label Lunapark, das er gerade mit Herbert Böhme vom Hafenklang-Studio in die Welt gesetzt hatte.

So holte ich ab Frühsommer 1981 regelmäßig nach der Schicht als Schulbusfahrer für die Johanniter Unfall-Hilfe Thomas in seiner Wohnung in der Rothenbaumchaussee ab und wir fuhren in meinem alten Käfer zum Fischmarkt ins Hafenklang-Studio. Das war noch der alte, schmuddelige Fischmarkt, mit Fischhändlern, Straßenstrich und dem durchdringenden Geruch nach Hopfen von der nahen Brauerei, der mir besonders im Gedächtnis geblieben ist.

Wir begannen das Projekt, indem wir die vier als Demo produzierten Titel neu aufnahmen und schnell bildete sich eine Arbeitsstruktur heraus: Am Anfang war mein zufälliges Getippe auf Dr. Rhythm; wenn sich ein Groove ergab, griff ich zu Bass und Gitarre und Thomas fing an, an Equalisern, Echo- und Hallgeräten, Harmonizer, Flanger und Verzerrern Sounds zu machen. Spätestens wenn ich ans (Casio-)Keyboard ging, durfte, nein: musste er so richtig loslegen.

Nach einer Weile kamen Gäste dazu: Hansi Bley etwa, Wunderdrummer der Stunde, mit dem ich bei Saal 3 eine Weile zusammengespielt hatte und den wir alsbald zu den Zimmermännern kobern sollten, Timo Blunck, der die Bassparts zu unseren gemeinsamen Stücken nochmal veredelte, seine Schwester Rica als Chorsängerin, eine Funktion, die auch Studiobetreiber Herbert übernahm.

Dabei erarbeiteten wir die Stücke nach der Weißes-Blatt-Methode: Es gab keine Idee, kein Teilstück, keine Basisidee, bevor nicht der programmierte Beat die erste Vorgabe machte. Und dann fand sich alles auf wundersame Weise, wobei Thomas und ich uns nicht nur gegenseitig inspirierten, sondern auch jeder jeden in seinem jeweiligen Teilbereich machen ließ. Das Ziel der Platte war also nicht die Verwirklichung vorformulierter Ideen – es gab keine musikalische Vision. Vielmehr ging es um das Ausprobieren und Auswerten von Methoden, um im Idealfall eine Abkürzung zum Verwirklichen musikalischer Ideen zu finden.

Die Texte fand ich quasi am Wegesrand. Im „Spiegel“, bei den morgendlichen Konversationen der Vorschulkinder in meinem Schulbus („Christina ist ein Schwein“ ist komplett aus dem Monolog eines dieser Kinder zusammenmontiert) oder bei der Pausenlektüre, während ich auf die nächste Busfuhre wartete – vor allem erinnere ich mich an Samuel R. Delany, Dostojewski-Romane und Brecht-Lyrik. Wenn mir gar nichts einfiel, montierte ich Fundstücke aus der Boulevardpresse des Tages („Zuckende Chamäleon-Lichter“ entstand so).

„Volkskunst aus dem Knabengebirge“ war also ein Experiment reinsten Wassers. Es funktionierte mal besser, mal schlechter. Die produktivste Phase begann für mich, als wir nach dem Sommerurlaub die Produktion wieder aufnahmen und als dann nach mehreren Terminabsagen (weil wir uns natürlich nach den Studio-buchungen richten mussten) die Luft ein wenig raus war, wurde es schwieriger. Da musste Thomas auch schon mal Brian Enos „Obliege Strategie“-Karten zu Hilfe nehmen.

Ich darf mich am Ende bedanken bei Thomas Fehlmann und bei Herbert Böhme, die die Entstehung dieser Platte möglich gemacht haben, bei Hansi Bley, Timo und Rica Blunck für ihre Mitwirkung daran – und bei dem leider viel zu früh verstorbenen Walter Thielsch, der nicht nur unter dem Pseudonym Reno Bleibtreu die wundervollen Liner Notes verfasste, sondern dem ich vor- wie hinterher etliche exzeptionelle nicht nur musikalische Inspirationen verdanke.


Detlef Diederichsen, April 2020

 

Detlef Diederichsen, am 11. Mai 1960 in Hamburg geboren, ist ein deutscher Journalist und Musiker. Er ist Gründungsmitglied der Band "Die Zimmermänner" und war in den 80er-Jahren fester Bestandteil der Hamburger Punk und New Wave-Szene. Seit 2006 ist Detlef Bereichsleiter für Musik, Tanz und Theater im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.

1982 erschien sein Solo-Album mit dem Titel "Volkskunst aus dem Knabengebirge", welches nun kurz nach seinem 60. Geburtstag als Wiederveröffentlichung bei Tapete Records erscheint.

 

 

Discography

Album
Volkskunst aus dem Knabengebirge