Die Zimmermänner spielen Skafighter (VÖ: 26. Mai 2023)

Die Zimmermänner, 1980 als Skafighter von Timo Blunck und Detlef Diederichsen in Hamburg gegründet und kurz darauf um Christian Kellersmann und 5 weitere Musiker*innen erweitert, beginnen als Schülerband. Die Gruppe hat sehr unterschiedliche musikalische Vorstellungen, kann sich aber im Zuge der aus England herüberschwappenden 2-Tone-Welle (Specials, Madness) auf Ska einigen. Sie spielen zunächst nur auf Partys und Schulfesten.
Auf einer dieser Veranstaltungen werden sie von Alfred Hilsberg entdeckt, der mit ihnen eine EP auf seinem Label Zick Zack veröffentlicht. Dafür ändern sie ihren Namen in Ede & die Zimmermänner (nach Eduard Zimmermann, »Aktenzeichen XY ... ungelöst«), ein Jahr später lassen sie das »Ede« fallen und machen auch keinen Ska mehr.

Bis jetzt.

Der leider viel zu früh verstorbene Kristof Schreuf schrieb 2022 anlässlich ihres Best-Of-Albums »Goldene Stunde« über die Zimmermänner:
»Ihr Debüt ›1001 Wege, Sex zu machen, ohne daran Spaß zu haben‹ (1982) erschien in einer Zeit, als das Publikum von Musikern verstärkt forderte, dass sie sich ihre Mimik von Clint Eastwood und ihre schwarze Lederkleidung von Mad Max borgen sollten. Aus ihren Liedern sollten Ernst, Pathos, vor allem ein durchdringender Endzeitduft herausdampfen.

Wer aber, wie die Zimmermänner, diese dumpfen Ingredienzien nicht bieten wollte und es außerdem wagte, US-amerikanische Bands wie die Beach Boys, Steely Dan oder Kid Creole and the Coconuts zu mögen, hatte für manch glaubensfesten Punk nichts anderes verdient, als vor der Marktstube ein paar auf die Fresse zu kriegen. ›Goldene Stunde‹ ist ein toller Anlass, dieses Vorurteil zu revidieren. Mit dem Album lässt sich entdecken, wie sich eine nahezu unbegrenzte musikalische und textliche Bewegungsfreiheit anhören kann. Die Zimmermänner: eine dringend notwendige Band.«

Aber noch einmal von vorn: Die Zimmermänner, 1980 als Skafighter von Timo Blunck und Detlef Diederichsen in Hamburg gegründet und kurz darauf um Christian Kellersmann und 5 weitere Musiker*innen erweitert, beginnen als Schülerband. Die Gruppe hat sehr unterschiedliche musikalische Vorstellungen, kann sich aber im Zuge der aus England herüberschwappenden 2-Tone-Welle (Specials, Madness) auf Ska einigen. Sie spielen zunächst nur auf Partys und Schulfesten.

Auf einer dieser Veranstaltungen werden sie von Alfred Hilsberg entdeckt, der mit ihnen eine EP auf seinem Label Zick Zack veröffentlicht. Dafür ändern sie ihren Namen in Ede & die Zimmermänner (nach Eduard Zimmermann, »Aktenzeichen XY ... ungelöst«), ein Jahr später lassen sie das »Ede« fallen und machen auch keinen Ska mehr.

»Ein paar Wochen lang schien auf unserem kleinen Punk-Planeten nur noch Ska interessant zu sein. Also setzte man sich lustige Hütchen auf, machte Ska oder sah zumindest so aus. Ein paar Wochen später schien das schon wieder albern zu sein, aber in der Zwischenzeit machten die Fehlfarben ›Es ist zu spät für die alten Bewegungen‹ (was dann den Titel ›Freiheit und Abenteuer‹ bekam) und die Zimmermänner ›So froh‹. Stücke, die auf einmal nichts mehr mit dem ganzen Depro-Kram zu tun hatten, der noch kurz vorher so richtig Übergewicht zu kriegen schien. Ohne diese beiden Bands würde man heute möglicherweise denken, Punk in Deutschland wäre irgend etwas zwischen einer Grufti-, Alkoholiker- oder Anarcho-Angelegenheit gewesen. « Jürgen Teipel, Autor von »Verschwende deine Jugend«, Doku-Roman über die Neue Deutsche Welle

Die Zimmermänner veröffentlichen weiter auf ZickZack: 1981 eine Single – »Ein halbes Jahr«, 1982 ein Album – o.g. »1001 Wege ...« und 1983 eine EP – »Zurück in der Zirkulation« (letztere erscheint auch in England auf Cherry Red). 1984 folgt die LP »Goethe« auf Atatak. 1985 lösen sich die Zimmermänner auf.

»Wie heißt es bei den Zimmermännern auf ›Goethe‹ noch in meinem Lieblingslied aller Zeiten, ›Schlecht, aber einer von uns: Jesaja‹? ›Die Erika / wollte wirklich nur die Uhrzeit / von ihm wissen / Jesaja nutzte die Gelegenheit / Ist er nicht ein Schwein?‹
Wenn es einmal in Thomas Manns ›Zauberberg‹, von dem, wie mir scheint, die Zimmermänner ihr subtil ironisches Konzept entlehnt haben könnten, in Bezug auf das Steckenpferd von Dr. Krokowski heißt, der Mann betreibe in privaten Sitzungen ›Seelenzergliederung‹, also modern gesprochen Psychoanalyse, muss im Falle der Zimmermänner von ›Silbenzergliederung‹ die Rede sein. Wie sonst sollte es zu erklären sein, dass selbst Jahrzehnte später Textbausteine in unseren Gehirnen umher geistern und nicht totzukriegen sind?«

Eckhart Nickel, Autor von »Spitzweg«, Buchpreis Shortlist 2022

Auch die Zimmermänner sind nicht totzukriegen – schon ab 1987 treten sie wieder regelmäßig im Café Schöne Aussichten in Hamburg auf und treffen sich trotz unterschiedlicher Wohnorte und Lebenslagen immer wieder zu Aufnahmen. Dabei entsteht das Album »Fortpflanzungssupermarkt«, das 2007 erneut auf ZickZack erscheint. 2014 folgt »Ein Hund namens Arbeit«, diesmal auf Tapete Records. Die Kernbesetzung bleibt immer dieselbe – bis zum heutigen Tag sind Blunck, Diederichsen und Kellersmann die Zimmermänner.

Sänger, Songschreiber und Produzent Timo Blunck, geboren 1962, erlebte den offiziellen Höhepunkt seiner Musiker-Laufbahn mit 19. Als Bassist der NDW-Sensation Palais Schaumburg nahm er zwei Alben auf, von denen das erste, »Palais Schaumburg«, ein Meilenstein der deutschen Pop-Geschichte wurde. Er tourte mit Kurtis Blow und Depeche Mode, Palais Schaumburg schafften es bis in die USA und nach Japan, spielten in so legendären Clubs wie der Danceteria in New York und der Hacienda in Manchester.

Mit seinen Bands Die Zimmermänner und Grace Kairos konnte er zwar nie ganz an die Erfolge von Palais Schaumburg anschließen, aber nach seinem Umzug Anfang der 90er nach London und später New Orleans und Los Angeles wurde er ein gefragter Komponist und Produzent, hatte weltweite Chart-Erfolge (Freaky Realistic, Christie Hennessy). 2001 kehrte er zurück nach Deutschland und komponierte die Musik für zahlreiche Kino- und Fernsehfilme (z.B. »Außer Kontrolle«, Regie Christian Görlitz, »Bis zum Ellenbogen«, Tatort »Schwindelfrei«, Regie beide Justus v. Dohnányi, »Blutadler«, Regie Nils Willbrandt).

Als Werbekomponist hat er mit seiner Firma BLUT praktisch für jedes Produkt produziert und dafür u.a. einen Goldenen Löwen in Cannes und einen goldenen Clio in New York gewonnen.
Seit 2016 arbeitet Blunck vornehmlich als Autor, 2018 erschien sein erstes Buch, »Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?«, im März 2021 folgte »Die Optimistin«, beide bei Heyne Hardcore / Penguin Random House. Blunck schreibt z.Zt. an seinem neuen Roman, der 2024 erscheinen wird.

Sänger, Songschreiber und Gitarrist Detlef Diederichsen, geboren 1960, veröffentlicht seit 1976 Texte über Musik und andere Kulturthemen u.a. in Sounds, Spex, taz/die tageszeitung und Die Woche. 1982 erschien sein Soloalbum »Volkskunst aus dem Knabengebirge« bei der Phonogram. Von 1986 bis 1993 war er Redakteur bei Tango (Hamburger Stadtmagazin) und Prinz.

Diederichsen produzierte Platten von FSK, Saal 2, JaKönigJa und Folke Jensen. 1993 gründete er das Label Moll Tonträger (The Sea And Cake, Souled American, Ethan James u.a.).
Von 2006 bis 2022 war er Leiter des Bereichs Musik und Performing Arts am Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin, konzipierte und kuratierte dort jährliche Festivals wie »Wassermusik« und »Worldtronics« und außerdem thematische Festivals zum Anthropozän (»Unmenschliche Musik«, »Böse Musik«, »Doofe Musik«), zu Copyright (»100 Jahre Copyright«, »Right the Right«), Archiven (»Find the File«), Utopien (»Cosmic Awakening«) und anderen Themen.

Als Herausgeber veröffentlichte er diverse Bücher, u.a. »Das vermessene Paradies - Positionen zu New York« (m. Bernd Scherer, 2007), »Krieg singen« (m. Holger Schulze, 2017), »100 Jahre Copyright« (m. Lina Brion, 2019), »Listen!«/»Listen to Lists« (m. Lina Brion, 2021), »Künstliche Musik«/»Artificial Music« (m. Arno Raffeiner, 2022).

Saxofonist und Flötist Christian Kellersmann, geboren 1960, spielte neben den Zimmermännern auch bei Palais Schaumburg und Andreas Dorau.
Seit 32 Jahren ist er jenseits des Pop-Mainstreams als Executive Producer bei diversen Schallplattenfirmen beschäftigt. So launchte er u.a. das Gilles-Peterson-Label Talkin ‘Loud in Deutschland und initiierte die »Mojo- Club presents Dancefloor Jazz«-Reihe. Er arbeitete 23 Jahre eng mit ECM zusammen und begleitete Till Brönners Karriere für 15 Jahre. Er kuratierte die Recomposed-Serie der Deutschen Grammophon (z.B. mit Max Richters »Recomposed Vivaldi«, eine der erfolgreichsten Klassik-Veröffentlichungen der letzten 10 Jahre) und veröffentlichte Max Raabes erfolgreichstes Album »Küssen kann man nicht alleine«. Er baute das Yellow- Lounge-Format auf und betreute Künstler wie Lang Lang, Anna Netrebko oder Rolando Villazon.

Seit 2019 leitet Kellersmann bei der BMG das Label Modern Recordings und ist dort mit bislang einem Grammy und drei Nominierungen sehr erfolgreich. Neben vielen anderen erscheinen Pat Metheny, Rickie Lee Jones, Rufus Wainwright, Daniel Lanois und Matthew Herbert hier weltweit.

Nach mehreren Anläufen, ein neues Album aufzunehmen, die jedes Mal an den nach wie vor sehr unterschiedlichen Vorstellungen der drei Musiker scheitern, einigen sich die Zimmermänner 2023 erneut auf Ska. Und so schließt sich 43 Jahre nach Bandgründung der Kreis.

Zur Entstehung von »Die Zimmermänner spielen Skafighter« äußert sich Detlef Diederichsen in seinen Linernotes zur Platte:

SKAFIGHTER: EINE ERINNERUNG, EINE PLATTE, EINE FIKTION

Sie halten in den Händen: eine Platte, die es nicht geben kann. Denn wir haben es versäumt sie zu machen, damals 1980, nachdem Alfred Hilsberg unsere erste EP auf ZickZack herausgebracht hatte und wir uns ein abendfüllendes Repertoire deutschsprachiger Ska-Stücke erarbeitet hatten. Wir wollten weiter, weg von der Festlegung auf Ska, hin zu den unendlichen Möglichkeiten, die das Pop-Universum bietet. Und so ließen wir sie am Wegesrand zurück, „Lieselotte“, „Eberhard Karolczak“ und wie sie alle hießen. Bis wir das Alter erreichten, in dem man immer häufiger in den Rückspiegel blickt und sich überlegt: Wie war das eigentlich, damals? Und wieso so und nicht anders? Hätte man nicht und wäre es eigentlich nicht viel besser gewesen, wenn ...? Kurz gesagt: Wir spürten eine gewisse Reue, seinerzeit nicht das erste deutschsprachige Ska-Album aufgenommen zu haben, das wir eigentlich in uns gehabt hatten. Und überlegten, ob man diesen Fehler womöglich im Nachhinein rückgängig machen kann ...?
Rein technisch wäre das 2022 natürlich leicht möglich gewesen. Tatsächlich begannen wir mit dieser Zielsetzung die vorliegende Produktion, wollten die alten Stücke mit der Fidelity von 1980 nachbauen und womöglich ein kleines Märchen über ein Lost Album und beim Kelleraufräumen gefundene Tapes dazudichten. Doch dann geschah etwas Seltsames: Die Songs übernahmen die Macht bzw. raunten uns zu: Leute, das könnt ihr doch viel besser. Und wir schauten kurz beschämt zu Boden und nickten dann stumm. Geschichtsfälschung ist ohnehin keine Lösung.
Wir stiegen also ein in den Erinnerungszug und ließen uns davontragen. Wir staunten über das Selbstbewusstsein und die Frechheit, ja Unverschämtheit, die unsere ersten Musikversuche prägten. Und ließen uns von unseren so keck daherkommenden jüngeren Selbsten sogar insoweit einschüchtern, dass wir die Stücke nicht grundlegend veränderten, nicht aus der Zeit hoben, sondern uns immer wieder fragten: Hätte ich diese Idee auch damals gut gefunden?
Immerhin konnte uns die Euphorie, die dieses Arbeiten bei unseren heutigen Selbsten auslöste, dazu verleiten, das damalige Repertoire historisch inkorrekt leicht zu erweitern: um Stücke, die 1980 noch nicht geboren waren, sondern erst 1981 oder 1982, die mit Ska oder Reggae ursprünglich nichts mehr zu tun hatten, die aber geeignet schienen, in diesen Kontext eingepasst zu werden.
Wir hatten keine Aufzeichnungen mehr von 1980, nur unser Gedächtnis, was weniger bei der Musik, aber umso mehr beim Text zum Problem hätte werden können. Nur waren wir nun unseren früheren Geisteszuständen wieder so nahe gekommen, dass wir meinten, uns die Freiheit nehmen zu dürfen, einige fehlende Zeilen hinzuzufügen, in der Hoffnung, der Intention von dereinst einigermaßen zu entsprechen. Mögen die frechen jungen Skafighter von 1980 den Skafighter-Großvätern von 2022 diese Überschreitung nachsehen!
Endeten meine Ambitionen und meine Phantasie mit dem Stadtfein-Machen der adoleszenten Originale, ging es bei Timo nun erst los. Der erste Sprung, mit dem er die ursprüngliche Eingrenzung des Projekts überwand, war womöglich eine Folge von überlangen Aufenthalten im Wunderland der Erinnerung: Nun wollte er nicht mehr sein früheres Selbst sein, bzw. ihm bei der Fertigstellung und Verbesserung alter Ideen zur Seite stehen – jetzt wollte er einen Schritt zur Seite tun und die Lebensumstände, die Konflikte, die kreativen Prozesse und den Zauber der Zeit einfangen, in der das kurze Leben der Skafighter lag. Seine kompositorischen Beiträge zu dieser Platte entstammen zum größten Teil dieser Intention.
Sie sehen: So wie die Platte klingt, die Sie jetzt in den Händen halten, hätte das Skafighter-Album von 1980 niemals geklungen. Es hätte nur so klingen können, wären wir damals das gewesen, was wir heute sind. Was wir aber nicht waren und auch niemals hätten sein können. Sie sehen: eine unmögliche Platte.

(Detlef Diederichsen, Hamburg Othmarschen im Dezember 2022)

Live

Discography

Album
Die Zimmermänner spielen Skafighter
Best Of
Goldene Stunde (alle Hits 1980-2017)

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