Samba

Die Ekstase der Möwen (VÖ: 01.04.2011)

Wider die Wut

Willkommen in der Gegenwart – Deutschland ist fest in der Hand der Wutbürgerlichkeit: Die Hälfte aller Stuttgarter bezeichnet ein Bahnhofsbauvorhaben tatsächlich als eine „lebenswichtige Frage“. Wenn Thilo Sarrazin an ein Lesepult tritt, brüllt ein Mob aus Anzugträgern sofort auch nur die leiseste Kritik an seinen Thesen nieder. Die Mittelschicht ist in Rage. Auf den Bestsellerlisten tummeln sich die Hasserbücher: Ärztehasser, Lehrerhasser, Bahnhasser, Amerikahasser, Handyhasser. Deutschland geht vor die Hunde, die Schaffner und der ganze dummgeglotzte Rest können kein richtiges Englisch und die Mittelschicht kann nicht mehr ruhig schlafen. Besoffen vom guten Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen – und zwar auf der einzig richtigen – hat sich eine neue gesellschaftliche Klasse gebildet: der Empörkommling1.

In diesen unsympathischen, verbiesterten Zeitgeist hinein hat Knut Stenert mit seiner im Laufe der Jahre immer mehr zum Soloprojekt gewordenen Band Samba eine wundervoll entkrampfende und verheißungsvolle Pop-Platte gemacht. Frei von Hass und Entrüstung, voll von Hoffnung und Entgrenzung. Eine Aufforderung zum Tanz in der Arena der Freiheit. 

Ich mag die Biedermeierlichkeit, mit der die Menschen sich bei einem Film wie „Avatar“ im Multiplexkino ihre 3D-Plastikbrillen aufsetzen, aus riesigen Cola-Eimern trinken und sich von dem im Film propagierten Konzept der Nachhaltigkeit und der Verschmelzung mit der Natur hinreißen lassen. Inkonsequent, aber schön und beruhigend. So, wie sich alle im Internet gegenseitig hinterherrecherchieren, mit Payback-Karten ihre Einkäufe dokumentieren, um dann Hausfassaden zu pixeln und auf die „Spionageautos“ von Google einzudreschen. (Knut Stenert)

Schon der Albumtitel „Die Ekstase der Möwen“ weckt dabei eine spannende Doppelassoziation. Auf der einen Seite die Weite des Meeres und das Fernweh, das sie weckt. Auf der anderen Seite aber die Gier jener Vögel, die immer weiter ins Landesinnere vordringen, Müllkippen erklimmen und auf ihnen die verkommene Seite des Wohlstands verkörpern. 
Es ist bezeichnend, dass selbst in einem Film wie „Findet Nemo“, in dem fast alle Tiere positiv und klar identifizierbar dargestellt sind, die Möwen als einzige diese anonyme, unsympathische Masse bilden, die, die immer nur „Meins! Meins! Meins!“ schreit. Vielleicht ist der Schwarm aber auch gut. (Knut Stenert)

Ähnlich wie auf dem Vorgänger „Himmel für Alle“ geht es auch auf dem inzwischen siebten Samba-Album wieder um das sich Aufschwingen in einen unreligiösen Olymp, das Aufgehen des Einzelnen in der Masse und die Ängste und das Glück, die damit einhergehen können. „Ein voller Kuss, ein leeres Lachen“ warten dort ebenso wie die Sehnsucht des Einzelnen auf den großen Wurf, der Suche nach dem Höhepunkt und der Erlösung gleichzeitig.

Entstanden ist das Album in Zusammenarbeit von Knut Stenert und Gregor Schenk in Hamburg, Leipzig und Berlin. Unterstützung kam von Benedikt „Wolke“ Filleböck („herbe frau“), mit dem Knut auch schon beim Nebenprojekt „Knut und die Herbe Frau“ zusammengearbeitet hat, sowie von Ramin Bijan („Die Türen“). Juli-Schlagzeuger Marcel Römer hat getrommelt. Wie schon bei den letzten Samba-Alben „Aus den Kolonien“ und „Himmel für Alle“ hat Tobias Siebert (Delbo/Klez.e) das Album mitproduziert und abgemischt. Der Regler Indierock, der im Grunde seit den ersten Samba-Alben immer weiter heruntergefahren wird, ist nun fast bei null angekommen. Dafür swingt und schwingt, bleept und zirpt es immer mehr, süße Backgroundchöre schwelgen in Harmonie und dann und wann dürfen auch Synthesizer und Electro-Beat Hand in Hand Richtung Horizont davon brettern. 

Ob noch jemals ein zweites Postal-Service-Album erscheint, ist fraglich. „Die Ekstase der Möwen“ macht das Warten auf jeden Fall angenehmer – und dass Samba uns mit den Wutbürgern nicht alleine lassen, kann man ihnen gar nicht hoch genug anrechnen. 

- Christoph Koch

(Christoph Koch ist Mitglied der NEON-Redaktion und schreibt unter anderem für brand eins, GQ und den Tagesspiegel. Gerade ist sein Buch "Ich bin dann mal offline - Leben ohne Internet und Handy" erschienen) Der Begriff geht (abgesehen von ein paar lustigen Vertippern in Online-Rezensionen) auf den Philosophen Sascha Lobo zurück.

 

 

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